"Ich bin sehr scharf im Kopf heute."

Tabuisiertes Begehren

Tabuisiertes Begehren in Thomas Manns Der Erwählte und Hartmanns von Aue Gregorius

Thomas Mann hörte im Wintersemester 1894/1895 Vorlesungen des Münchner Germanisten Wilhelm Hertz über Hartmann von Aue. Dies hat nachhaltige Spuren bei ihm hinterlassen, allerding zunächst ohne zeitnahe Effekte. Denn erst viele Jahrzehnte später erschien 1951 sein Roman der „Der Erwählte“, der unmittelbar auf dem Versroman „Gregorius“ von Hartmann von Aue basiert. Das Thema, das beide Texte verbindet, war und ist brisant: doppelter Inzest. Erzählt wird im mittelhochdeutschen Original – wie auch bei Thomas Mann – die Legende vom guten Sünder Gregorius, der ungewollt in einen doppelten Tabubruch verstrickt war – er wurde als Kind einer Geschwisterliebe geboren und heiratete später unerkannt seine Mutter, die er gemäß den mittelalterlichen Vorstellungen schemagerecht aus bedrohlicher Situation gerettet hatte. Trotz seiner sündhaften Vergangenheit wird Gregorius durch extreme Buße geläutert und schließlich zum Papst berufen.

Der Beitrag nimmt die exzellente Neuedition und Kommentierung von Thomas Manns „Der Erwählte“ (GKFA 11.1; 11.2) von Ende 2021 zum Anlass, Thomas Manns „Der Erwählte“ mit dem mittelhochdeutschen „Gregorius“ Hartmanns von Aue mit besonderem Fokus auf den tabuisierten Geschlechter- und Paarbeziehungen neu zu beleuchten. Hierfür werden zunächst Ansätze der Gender Studies historisiert und komparatistisch operationalisiert. Darauf aufbauend soll anhand exemplarischer Episoden aus beiden Werken gezeigt werden, wie Beziehungs- und Machtverhältnissedurch tabuisierte ‚Verdichtung‘ familiärer Verhältnisse zur Störung von ‚Normalität‘ führen und die Normentransgressionendes doppelten Inzests provozieren. ‚Verdichtung‘ wird dabei ergänzend zur Psychoanalyse (nach Freud) etwa im Rekurs auf André Jolles (1933) als eine Strategie des Erzählens aufgefasst, die sich im Kontext des Inzests als ‚Entdifferenzierung‘ im Text manifestiert. Ein weiterer Schwerpunkt wird auf der ironischen Brechung des Erzählten zwischen Empathie mit und Distanzierung von den Figuren liegen. Abgerundet wird der Vortrag mit Überlegungen zum intertextuellen Potenzial der familiären und geschlechtlichen Entdifferenzierungen und der Frage nach deren Changieren zwischen einem mittelalterlichen ‚Dispositiv‘ und einer ‚gesteigerten Subjektivität‘ in der modernen Narration.

 

Prof. Dr. Andrea Sieber ist seit 2016 Inhaberin der Professur für Ältere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: kulturwissenschaftliche Ansätze in der Mediävistik, Mediengeschichte & Medientheorie, Mittelalterrezeption & -didaktik. Seit 2022 ist sie 2. Vorsitzende der Gesellschaft für Hochschulgermanistik im Deutschen Germanistenverband. Reihenherausgeberschaften: Aventiuren; Germanistik – Didaktik – Unterricht; Diversity, Gender & Intersektionalität.

 

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