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Und immer wieder die Gnade

Und immer wieder die Gnade: Auserwählung und Humanität in Thomas Manns späten Erzähltexten

In seinem vielzitierten Essay „Meine Zeit“ (1950) bezeichnet Thomas Mann „die Gnade“ mit einem auffälligen Superlativ als die „souveränste Macht“, „bei der allein es steht, das Schuldiggebliebene als beglichen anzurechnen.“ Von einer göttlichen Macht ist hier freilich nicht die Rede, doch steht der Begriff der Gnade – ebenso wie der der Schuld – in einem unverkennbar religiösen Kontext, der seit den Joseph-Romanen einen dezidiert biblischen Zusammenhang meint, mit den zentralen Gedanken von Offenbarung und Erwählung. Dass im Spätwerk Thomas Manns „auffallend häufig […] von der Gnade“ (Karl-Josef Kuschel) die Rede ist, hat die Forschung verschiedentlich festgestellt und meist mithilfe Thomas Manns’ Selbstaussagen im Kontext der Lebensrechtfertigung durch das Werk gedeutet. Wenn aber – ausgehend von Manns Bezeichnung als „souveränste Macht“ – das Wesen der Gnade als „nicht verdienter Gunsterweis“ (Paulus) in den Blick genommen wird, stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Gnade im Werk noch einmal ganz grundsätzlich.

Warum wird gerade das undurchsichtige, in letzter Konsequenz unbegründbare Konstrukt der (göttlichen) Gnade für Thomas Manns späte Schaffensphase so wichtig? In welchem Zusammenhang stehen Gnade und das ebenfalls so zentrale Motiv der Auserwählung zueinander? Und schließlich: Wie verhält sich die Willkür der Gnade zur Humanität? An ausgewählten Erzähltexten – „Das Gesetz“, „Die vertauschten Köpfe“, „Der Erwählte“, „Die Betrogene“ –, die auf ganz unterschiedliche Weise Erwählung und Humanität thematisieren, soll die Funktion der Gnade für das Spätwerk diskutiert werden.

 

Dr. Miriam Albracht, Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Düsseldorf, Promotion mit einer Arbeit über Thomas Manns Joseph-Roman und die Erzählung ‚Das Gesetz‘. Vorsitzende der Thomas Mann-Gesellschaft Düsseldorf. Aktuelle Publikationen: „Ordnung und Gewalt. Thomas Manns Josephroman und die Erzählung ‚Das Gesetz‘”. Wien 2019; „‚[...] ein Erbe! Ein Stammhalter! Ein Buddenbrook!’ Von der Problematik geschlechterspezifischer Zuschreibungen. Hanno Buddenbrook gendertheoretisch gelesen” (zusammen mit Philipp Ritzen). In: J. Reidy/A. Totzke (Hgg): Mann_lichkeiten. Kulturelle Repräsentationen in Texten Thomas Manns. Würzburg 2019.

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